Zerreiß den Bann der Überlieferung

Fallersleben » Biographie » ( 16. 02. 1872)

Es ist ein wahrer Jammer, wie es mit unserem höheren Schulwesen beschaffen ist. Möchten doch alle Väter einsehen, daß ihre Kinder in unseren jetzigen Gymnasien zu Krüppeln an Leid und Geist verbildet werden. Seit Jahren habe ich in jeder Familie, wo ich verkehrte, nur Klagen gehört, daß die Kinder durch die vielen Schulstunden und Schularbeiten, bei denen sie oft bis in die Nacht sitzen müßten, durch das ewige Griechisch und Latein, das Auswendiglernen von Vokabeln und grammatischen Regeln und Ausnahmen gar nicht mehr zum Denken gelangten und, statt sich frisch und froh geistig und leiblich zu entwickeln, zurückblieben und fast versimpelten.

Wäre ich nur 20 Jahre jünger, ich wollte einen Verein stiften zur Ausrottung des Latein und Griechisch, beides sollte aus dem Staatsleben wenigstens verbannt werden und nur den Gelehrten und katholischen Pfaffen überlassen bleiben. Geschrien habe ich freilich genug mein ganzes Leben lang, aber was hilft’s ? Selbst die vorurteilsfreieren Leute bekleben sich lieber mit dem Pflaster der klassischen Bildung, als daß sie es wagen möchten, mit einem freien, reinen Gesichte sich eine Bildung anzueignen, die den Anforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart genügt.
Ja, und ich schreie immerzu.

In der großen Dichterversammlung 1869 zu Bielefeld, wo so vieles zur Sprache kam, warf ich ein Lied wie einen Schwärmer mit hinein, aber es ging wie so einer spurlos dahin, und doch hätte man wohl daran anknüpfen sollen ! Strophe 3 lautet:

Wach‘ auf, wach auf, mein Volk ! Sei frisch und jung !
Der Menschheit Ziel das dein‘ auch sei !
Zerreiß den Bann der Überlieferung
und zeig, daß du geworden frei !

Der Krieg für das innere Düppel ist erklärt. Ob die Regierung ihn weiter fortsetzt, ist uns einerlei, wenn sie uns nur nicht hindert, mit allen gesetzlichen Mitteln zu kämpfen. Wir würden heute keinen Kampf mit den schwarzen Halunken haben, wenn die Regierung seit 50 Jahren bis jetzt die Presse und die freieren religiösen Bestrebungen hätte gewähren lassen, wir würden nebenbei mit den Junkern auch schon mehr fertig geworden sein. Ich wollte mein Gedicht an das innere Düppel neulich loslassen. Da ich aber nicht weiß, wie der Hase läuft, so nahm ich Abstand und habe es bis jetzt zurück behalten.

Der Anfang lautet:

Wann geht es an das innere Düppel ?
Ist alles nur ein Faschingsscherz ?
Sind wir nur Wichte, Zwerg‘ und Krüppel,
und ohne Zunge, Geist und Herz ?

Ich gehöre nicht zu den Vertrauensseligen, aber ich freue mich doch, daß man frei atmen kann ohne hohe polizeiliche Erlaubnis.(…) Es hat doch etwas Erquickendes, wenn das reine Quellwasser von allen Seiten herbeiströmt und die Sumpfjauche wegspült und die Luft reinigt ! (Briefe, S. 336)

16.2.1872, Schloß Corvey, an Theodor Ebeling in Hamburg