Brief an Ferdinand Wolf in Wien

Fallersleben » ( 12. 12. 1852)

Lieber Freund! So oft ich Ihren Namen las, habe ich mich immer herzlich gefreut, denn seit so langer Zeit, dass wir uns nicht gesehen und geschrieben, erfuhr ich nur immer Gutes von Ihnen. Wir werden uns wohl schwerlich je wiedersehen, uns die alten schönen Tage an der Donau zu erneuen. Es hat sich in unserm lieben Vaterlande Alles so gestaltet, dass unser einer schon froh ist, wenn er in seinem vier Pfählen der Kunst und den Wissenschaften und seiner Familie leben kann. Trotzdem aber bleibt es uns ja unbenommen, uns über unsere persönlichen Verhältnisse und wissenschaftlichen Studien auszusprechen. Und so mache ich denn heute schon den Anfang.

Seit einigen Jahren lebe ich am Rhein (seit 1851 hier), und in ganz angenehmen Verhältnissen. An litterarischen Verkehr ist wenig zu denken, dafür aber gibt uns der gesellige und die schöne Natur Ersatz. Meine Frau ist sehr musicalisch, singt und spielt und erteilt sogar Unterricht im Clavier und Singen. lch treibe meine alten litterarischen Liebhabereien, singe und dichte mitunter, spaziere, pflücke Blumen und — hacke Holz. Die letzten Jahre war ich sehr litterarisch tätig: ich besorgte eine neue Auflage des Reineke, einen neuen Teil der Horae Belgicae (die P. VIII) und die 4. Auflage meiner Gedichte.Zu Neujahr erscheint mein Theophilus , eine alte niederdeutsche Comödie aus einer Trierer Hs. Seit vorigen Sommer beschäftige ich mich viel mit einer neuen Auflage meiner Geschichte des deutschen Kirchenliedes und einer grossen Sammlung alter deutscher Volkslieder. ‚ Sobald jene vollendet ist, werde ich neue Auflagen der P. I. u. II. meiner Horae Belgicae in Angriff nehmen, die P. I. ist schon seit Jahren vergriffen und von der P. II. sind nur noch wenige Exemplare vorhanden. Sie sehen ich habe für jetzt und spätere Zeiten vollauf zu tun.

Sie würden mich sehr erfreuen, wenn auch Sie mir bald einige Umrisse Ihres bisherigen Tun und Treibens zukommen liessen. Meiner alten Liebe und Treue darf ich Sie ja nicht erst versichern. Die Geschichte des Kirchenliedes nimmt mich sehr in Anspruch. Ehe ich meine Arbeit abschliesse, will ich mich an alle Freunde wenden, von denen ich Interesse dafür erwarten darf. Und so ergeht denn auch meine Bitte an Sie. Haben Sie irgend Berichtigungen und Zusätze — und nach Ihren Studien über die Lais darf ich welche voraussetzen —-so teilen Sie mir selbige bald mit. Bitten Sie auch Herrn von Karajan, der ja gern gefällig ist, und Herrn Weinhold; mich mit Ihren Beiträgen zu unterstützen. Leben Sie nun recht wohl und schreiben Sie recht bald Ihrem

H v F , Neuwied, 12. December 1852